Guerilla: Revolutionäre Strategien und ihre Umsetzung

Guerilla: Revolutionäre Strategien und ihre Umsetzung
Guerilla: Revolutionäre Strategien und ihre Umsetzung
 
Als im Jahre 1997 die Gebeine Ernesto »Che« Guevaras von Bolivien, wo man ihn 30 Jahre zuvor als Guerillero nach seiner Gefangennahme erschossen und verscharrt hatte, unter den Augen der Weltöffentlichkeit nach Kuba überführt wurden, zeigte sich, dass der »Mythos Che Guevara« — und mit ihm die Idee der sozialistischen Revolution — auch nach dem Ende des Ost-West-Konflikts seine Faszination noch keineswegs vollständig eingebüßt hat.
 
Jede Beschäftigung mit den bedeutenden Theoretikern und Praktikern der Revolution der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts führt zunächst ins 19. Jahrhundert zurück. Unter dem Eindruck der ungehemmten Entwicklung des Kapitalismus und seiner sozialen Verwerfungen hatte Karl Marx seinerzeit den (gewaltsamen) Umsturz als notwendige, das heißt geschichtsphilosophisch zwangsläufige Voraussetzung der Errichtung einer kommunistischen Gesellschaft postuliert. Doch schon die Oktoberrevolution im zaristischen Russland von 1917 unter Führung Lenins zeigte, dass sich die Realgeschichte nur sehr bedingt an die theoretischen Vorgaben von Marx hielt. Denn nicht in den hochkapitalisierten Gesellschaften Deutschlands, Frankreichs oder Großbritanniens hatte die Revolution gesiegt, sondern im noch weitgehend feudal strukturierten Russland.
 
Abwandlung und Anpassung revolutionärer Theorie und Praxis an die spezifischen Verhältnisse der zu revolutionierenden Gesellschaften sollten auch für die Anhänger und Nachfolger Lenins kennzeichnend sein. Über die prinzipielle Berufung auf Marx und Lenin hinaus lassen sich, bei aller Unterschiedlichkeit im Einzelnen, bei Revolutionären wie Mao, Ho Chi Minh oder Che Guevara jedoch eine Reihe von Übereinstimmungen feststellen: Die eigentlichen Adressaten ihrer Aktionen, das heißt die »revolutionären Subjekte« der Befreiung waren die Bauern, was bereits bei Lenin angelegt war (»Arbeiter und Bauern«). Die sozialistischen Konzepte zur nachrevolutionären Gesellschaftsentwicklung enthielten zumeist die Punkte Landreform, Kollektivierung und Planwirtschaft, aber auch die »führende Rolle der Partei«; die Konzepte wurden zum Teil bereits während des Kampfs in den »befreiten« Gebieten umgesetzt. Es gab eine enge Verbindung von revolutionärer, sozialemanzipatorischer Theorie und Praxis, was sich insbesondere in der Strategie und Taktik des militärischen Kampfes zur Eroberung der Macht, der »Guerilla« (spanisch »kleiner Krieg«), äußerte. Damit verbunden war die zentrale Bedeutung militärischer Gewalt; sie wurde nicht selten ideologisch oder romantisch verklärt. Ein weiterer Punkt war die Betonung nationaler Elemente in der revolutionären Theorie und deren Umsetzung; sie war durch den jeweiligen kolonialen oder neoimperialistischen Kontext vorgegeben. Daneben gab es aber auch das »internationalistische« Element; es bestand in der wechselseitigen politischen, agitatorischen und materiellen Unterstützung von außen, vor allem durch die UdSSR und andere sozialistische Länder.
 
 Revolutionärer Krieg in Fernost
 
Maos Partisanentaktik
 
Geradezu idealtypisch äußerten sich diese Merkmale in der ersten erfolgreichen Revolution nach dem Zweiten Weltkrieg, die in China von Mao Zedong angeführt wurde. Schon früh erkannte Mao, dass die Revolution auf dem Lande nur mit den Bauern als Basis siegreich sein kann. Seine Gegner im Kampf um die Befreiung von Unterdrückung waren vor allem die Kuo-min-tang (KMT) unter Chiang Kai-shek und ab 1937 auch die japanische Armee. Da beide Kontrahenten Mao in militärischer Hinsicht anfangs weit überlegen waren, war er zur Anwendung des Partisanenkampfs gezwungen. Er verband diesen mit Elementen der klassischen chinesischen Kriegskunst (Ausweichen, taktischer und strategischer Rückzug). Der militärische Kampf hatte nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn sich die Rebellen der Unterstützung der Bevölkerung sicher sein konnten, sich im Volk »wie Fische im Wasser« bewegten. Die Partisanentaktik, für die Mao sich zunächst nur notgedrungen entschieden hatte, wurde nun zu einer allgemeinen Theorie des revolutionären Kriegs einer militärisch unterlegenen Truppe gegen einen überlegenen Feind fortentwickelt. Diese Theorie, so Mao, solle so lange befolgt werden, bis der Gegner in einer konventionellen Feldschlacht besiegt werden könne. Ihre härteste Bewährungsprobe erlebte die Rote Armee, als sie 1934/35 von Truppen der KMT eingeschlossen wurde und sich nur nach verlustreichem Ausbruch und langwierigem Rückzug, dem legendären »Langen Marsch«, vor der Vernichtung retten konnte. Von den anfänglich 100 000 Rotarmisten überlebten weniger als 10 000.
 
Nach der Kapitulation Japans 1945 und dem Sieg der in Volksbefreiungsarmee umbenannten Roten Armee über Chiang Kai-sheks Truppen 1949 begann Mao, seine von Lenin deutlich abweichende Vorstellung vom Kommunismus umzusetzen und theoretisch zu konkretisieren. Wesentliches Merkmal seines Denkens wurde dabei die Übertragung der Lehren von Marx, Engels und Lenin auf die chinesischen Verhältnisse. Seine langjährigen Erfahrungen im Krieg führten ihn zu einer starken Betonung des militärischen Kampfs, was ihn den Satz formulieren ließ: »Die Macht kommt aus den Gewehrläufen.« Bezüglich der »gesellschaftlichen Verhältnisse« kehrte Mao den entscheidenden Gedanken des Marxismus-Leninismus um: Veränderungen dieser Verhältnisse seien Resultat des veränderten Bewusstseins und folglich nicht die Konsequenz der veränderten Produktionsverhältnisse. Dem chinesischen Volk wies Mao auch eine führende Rolle bei der internationalen Verwirklichung des Kommunismus zu. Mit anderen Worten: Das chinesische Revolutionsmodell sollte auch für den Export gedacht sein. Erster Adressat in diesem Sinne war der südliche Nachbar Vietnam.
 
Verhandeln und Kämpfen — Vietnamesische Doppelstrategie
 
Der vietnamesische Befreiungskampf muss zunächst im Zusammenhang mit der Entkolonialisierung gesehen werden. Er richtete sich nicht in erster Linie gegen die einheimische Herrschaftsschicht wie in China, sondern primär gegen Besatzungstruppen — nach dem Abzug der Japaner 1945 waren dies französische Kolonialeinheiten, die dem Mutterland seine frühere Kolonie zurückgewinnen wollten. Schon 1941 hatte Ho Chi Minh die kommunistisch beherrschte Befreiungsbewegung der Vietminh gegründet, die unter Führung seines langjährigen militärischen Weggefährten Vo Nguyen Giap anfänglich gegen die japanische Besatzungsmacht, dann gegen die Franzosen kämpfte. Ho Chi Minh und sein Oberbefehlshaber der Vietminh-Streitkräfte betonten konzeptionell das Nebeneinander des politischen, auf Verhandlungen und Propaganda ausgerichteten Kampfs einerseits und des militärischen andererseits, wobei beide Vorgehensweisen als untrennbare Komponenten eines einheitlichen Ganzen verstanden wurden. Beide folgten Maos Empfehlungen, auf eine gute Beziehung zwischen kämpfender Truppe und Bevölkerung zu achten.
 
In ideologischer Hinsicht dagegen zeigte man sich in Vietnam als entschiedene Anhänger des Marxismus-Leninismus, freilich nicht ohne einige Anpassungen vorzunehmen. Ho Chi Minh betonte vor allem den Zusammenhang von nationaler Befreiung und sozialistischer Revolution sowie den Zusammenhang dieser beiden Umwälzungen mit der Weltrevolution. Danach bildeten die Völker der Dritten Welt und die ausgebeuteten Klassen in den Industrieländern das »naturwüchsig« miteinander verbündete revolutionäre Subjekt. Der Bogen, den die fernöstlichen Revolutionäre somit spannten, erhöhte die agitatorische und revolutionstheoretische Bedeutung dieses Denkens für die neomarxistisch geprägte Jugend der westlichen Welt in den Sechzigerjahren ganz ungemein.
 
Frankreich erwies sich als zu schwach, um der Opferbereitschaft und Entschlossenheit der Vietminh erfolgreich Paroli bieten zu können. Nachdem Giaps Kampftruppen den Kolonialherren 1954 mit der Einnahme der Dschungelfestung Dien Bien Phu eine empfindliche Niederlage beigebracht hatten, willigte Paris auf der Genfer Indochinakonferenz desselben Jahres ein, sich aus der Region zurückzuziehen. Bis zur Abhaltung von Wahlen in ganz Vietnam sollten die kommunistischen Kräfte den Norden des Landes behaupten, die nicht kommunistischen Kräfte den Süden. Mit dieser faktischen Teilung Vietnams fanden sich die Vietminh aber keineswegs ab, und aus Furcht vor einer weiteren Ausbreitung des Kommunismus in der Welt engagierten sich nun die USA in Vietnam. Sie ließen sich dabei in einen Konflikt hineinziehen, der sich bald zum Vietnamkrieg ausweiten sollte — einem Krieg, der trotz des Einsatzes modernsten Kriegsgeräts am Ende nicht zu gewinnen war.
 
 Frantz Fanon und der algerische Befreiungskampf
 
Frantz Fanons Name ist in besonderer Weise mit dem algerischen Befreiungskampf gegen Frankreich verbunden. Die Texte dieses Schriftstellers und politischen Theoretikers künden von der Notwendigkeit gewaltsamer antikolonialer Revolutionen. Das verhalf ihm nach seinem frühen Tod im Jahr 1961 zu wachsendem Einfluss auf die jüngere Generation in vielen Entwicklungsländern. Im Vergleich zu Mao, Ho Chi Minh oder Che Guevara sind in Fanons Werk freilich die Berührungspunkte mit Marx und Lenin eher gering.
 
Die algerischen Verhältnisse waren den vietnamesischen in gewisser Weise sehr ähnlich: Die Kolonialmacht Frankreich trachtete hartnäckig danach, an ihrem Besitz festzuhalten. Die vielen weißen Kolonisten Algeriens (colons) hielten alle maßgeblichen wirtschaftlichen und politischen Schlüsselstellungen besetzt. Am 1. November 1954 löste eine radikale Gruppe der Nationalen Befreiungsfront (FLN) um Ahmed Ben Bella einen bewaffneten Aufstand aus. Als Algerien nach langem blutigem Kampf 1962 seine Unabhängigkeit von Frankreich erwirkt hatte, kam es zu einer grundlegenden Umwandlung der gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse: Eine Million Kolonisten kehrten nach Frankreich zurück, und der FLN ergriff die Macht.
 
Geboren 1925 auf der französischen Karibikinsel Martinique, hatte Fanon, der farbigen Mittelschicht zugehörig, den algerischen Befreiungskampf lange begleitet. Am Zweiten Weltkrieg nahm er als Offizier der bewaffneten Streitkräfte unter Charles de Gaulles »Freiem Frankreich« teil (und nicht, wie mancherorts zu lesen ist, als Partisan). Nach dem Krieg studierte er in Frankreich Philosophie und Medizin. Schließlich kam er 1952 als Arzt nach Algerien. Tief beeindruckt von der Idee eines antikolonialen Befreiungskampfs gab Fanon 1956 den Posten als Leiter einer psychiatrischen Klinik auf und schloss sich dem FLN an. Er war zeitweilig Botschafter der provisorischen algerischen Regierung in Ghana; zugleich arbeitete er an theoretischen Schriften zum antikolonialen Befreiungskampf. In seinem Hauptwerk »Die Verdammten dieser Erde« (abgeleitet von der ersten Strophe der »Internationale«) entwickelte er die Grundgedanken seiner politischen Überzeugung. Die Gewalt, so legte er dar, sei eine Antwort der Kolonisierten auf ein bestehendes koloniales Zwangssystem. Von ihr erwartete Fanon eine für das Individuum wie auch für die Gesellschaft befreiende Wirkung, die zudem grundlegend für die nationale Entwicklung nach Erringung der Unabhängigkeit sei.
 
Mit diesen Gedanken verband Fanon eine entschieden antieuropäische Einstellung: Zwar habe Europa die Idee der Humanität einst hervorgebracht, diese jedoch durch den Kolonialismus zugleich auch wieder verraten. Den letzten Triumph des FLN zu erleben, sollte ihm nicht mehr vergönnt sein. Ein Jahr vor dem endgültigen Rückzug der Franzosen aus Algerien starb er 1961 in New York.
 
 Die kubanische Revolution und der Mythos Che Guevara
 
Wie keine zweite Persönlichkeit dieses Bezugsrahmens sollte Che Guevara weltweit die revolutionär gestimmten Gemüter inspirieren. Gleich vielen anderen revolutionären Führern war er bürgerlicher Herkunft. Er wurde 1928 als Sohn wohlhabender Eltern in der argentinischen Stadt Rosario als Ernesto Guevara Serna geboren; sein späterer Spitzname »Che« (argentinisch für »He« oder »Pass mal auf!«) rührte von der häufigen Verwendung dieses Wortes durch ihn her. Nach Abschluss seines Medizinstudiums 1953 ging er zunächst nach Guatemala, 1954 nach Mexiko. Dort traf er auf eine Gruppe Exilkubaner, unter ihnen Fidel Castro. Im November 1956 brach er mit diesen nach Kuba auf, um gegen das von den USA unterstützte Regime des Diktators Fulgencio Batista y Zaldívar zu kämpfen. Schon bald stellten sich Erfolge ein. Vor allem konnte Castro die ländliche Bevölkerung für den Guerrillakampf gewinnen. Ferner gelang es ihm, durch eine geschickte Medienpolitik in den USA zu bewirken, dass die amerikanische Regierung ihre Unterstützung für Batista einstellte. Nach dreijährigem Befreiungskampf marschierten die siegreichen Guerilleros in die Hauptstadt Havanna ein. Danach wirkte Che Guevara als Präsident der kubanischen Nationalbank (1959—61) und als Industrieminister (1961—65) am Aufbau der »neuen Gesellschaft« mit.
 
In dieser Zeit verlegte er sich auch auf die Abfassung theoretischer Schriften, die deutlich agitatorischen Charakter trugen und zumeist von den allgemeinen Erfolgsbedingungen des sozialistischen Umsturzes handelten. Aus den Erfahrungen der erfolgreichen kubanischen Revolution zog Che Guevara vier wesentliche Schlüsse. Erstens: Eine Aufstandsbewegung kann den Krieg gegen reguläre Streitkräfte eines Staates gewinnen. Zweitens: Es ist nicht notwendig zu warten, bis alle klassischen Bedingungen für eine Revolution erfüllt sind. Drittens: Selbst der von einer kleinen Guerillagruppe gebildete »Brennpunkt« (foco) kann schließlich die Revolution entfachen. Viertens: Im unterentwickelten Lateinamerika muss der Schwerpunkt für den bewaffneten Kampf hauptsächlich auf dem Land liegen.
 
Geradezu mythische Bedeutung maß Che Guevara hierbei der Figur des Guerilleros bei: Einmal sollte dieser alle militärischen Tugenden zeigen — die Taktik des schnellen »Zuschlagens« und des »Zurückziehens« anwenden, die perfekte Kenntnis landschaftlicher Gegebenheiten besitzen und ausnutzen sowie ein Höchstmaß an innerer Disziplin zeigen —, dann aber auch beseelt sein von den Idealen des gerechten Sozialreformers und bei alledem mit größter geistiger Flexibilität vorgehen. Als leidenschaftlicher Antiimperialist setzte sich Che Guevara für den revolutionären Befreiungskampf der Völker auf allen Kontinenten ein. 1967 formulierte er die berühmt gewordenen Worte »Schaffen wir zwei, drei, viele Vietnam!«
 
Es kann darum kaum verwundern, dass Che Guevara die Aufgaben in der kubanischen Regierung bald nicht mehr ausreichend befriedigten. Auch seine Reisen um die Welt, wo er bei zahlreichen Auftritten öffentlichkeitswirksam für die Revolution zu werben verstand, verschafften ihm keinen wirklichen Ersatz für die revolutionäre Tat. 1965 verzichtete er auf alle Ämter und die kubanische Staatsbürgerschaft. Sein Weg führte ihn zunächst in den Kongo, wo er sich den Rebellen anschloss, die im Osten des Landes gegen die prowestliche Regierung in der Hauptstadt Kinshasa kämpften. Doch schon bald zeigte sich, dass Che Guevaras »Fokus-Theorie« für den Kongo nicht anwendbar war. Hier führte der Guerillakrieg nicht zu einer massenhaften Solidarisierung der Bevölkerung mit den Partisanen, sondern war viel eher von ethnischen Rivalitäten gekennzeichnet.
 
Frustriert kehrte er Afrika den Rücken, um erneut in Lateinamerika für die Revolution zu streiten. In Bolivien sollte sich seine Annahme, dass die auf kubanischen Erfahrungen beruhende »Fokus-Theorie« allgemeine Gültigkeit besitze, schließlich als fataler Irrtum erweisen. An der Spitze einer aufständischen Gruppe von kaum mehr als 50 Guerilleros trug Che Guevara im Frühjahr 1967 den Kampf gegen das Regime des Präsidenten René Barrientos in die bewaldeten Hügel des Andenstaates. Doch die Bauernschaft mochte in dem Argentinier und seinen Guerilleros, die den Krieg in ihre Täler gebracht hatten, nicht die ersehnten Befreier sehen. So war das Unternehmen zum Scheitern verurteilt. Durch die Kämpfe mit Spezialeinheiten der Armee dezimiert und zudem eingeschlossen, ergab sich der verwundete Che Guevara mit dem kärglichen Rest seiner Mitstreiter und wurde am 9. Oktober 1967 von einem Unteroffizier der bolivianischen Streitkräfte erschossen.
 
 Revolutionäres Panorama — Afrika und Lateinamerika
 
Amilcar Cabral
 
Der bedeutendste Theoretiker und Organisator des Befreiungskampfs der afrikanischen Völker unter portugiesischer Kolonialherrschaft war Amilcar Cabral. Er wurde 1924 auf den Kapverdischen Inseln geboren (nach anderen Angaben in Bafatà im heutigen Guinea-Bissau), studierte Ingenieurwissenschaften in Lissabon und arbeitete in der Agrarabteilung der Kolonialverwaltung für Guinea-Bissau, ehe er 1956 die Afrikanische Partei für die Unabhängigkeit Guineas und der Kapverdischen Inseln (PAIGC) gründete. Seine Revolutionstheorie stellte eine Verbindung her zwischen nationalem Befreiungskampf und Kampf gegen Neokolonialismus sowie zwischen politischer Unabhängigkeit und »Befreiung der nationalen Produktivkräfte«. Gestützt auf den PAIGC, führte Cabral seit 1963 einen Befreiungskampf gegen die portugiesische Kolonialmacht, dessen politisch-militärische Strategie auf marxistischen Grundgedanken basierte. Als Cabral am 20. Januar 1973 einem Attentat zum Opfer fiel, hatte der PAIGC schon große Teile Guinea-Bissaus unter seiner Kontrolle. Sein erfolgreicher Kampf stand nicht allein: In Moçambique operierte die Befreiungsfront von Moçambique (FRELIMO), und in Angola hatten sich die Nationale Front zur Befreiung Angolas (FNLA), die Volksbewegung zur Befreiung Angolas (MPLA) sowie die Nationale Union für die vollständige Unabhängigkeit Angolas (UNITA) formiert. So kam das Mutterland Portugal in schwere Bedrängnis, was im April 1974 schließlich zur »Nelkenrevolution« führte. Die einschneidenden politischen Veränderungen im Mutterland bewirkten, dass die afrikanischen Kolonialgebiete schon alsbald in die Unabhängigkeit entlassen wurden.
 
Die Sandinisten
 
In Lateinamerika gelang es nach der kubanischen Revolution nur noch einer einzigen weiteren Befreiungsbewegung, an die Macht zu gelangen: den Sandinisten in Nicaragua. Ihr Kampf richtete sich gegen die von den USA gestützte Familienoligarchie der Somozas, die über Jahrzehnte mittels Repression und Wahlfälschung das Land beherrschte. Der 1962 von Carlos Fonseca, Tomás Borge Martínez und Silvio Mayorga gegründete FSLN (Sandinistische Nationale Befreiungsfront), benannt nach dem 1934 erschossenen Guerillaführer Augusto Sandino, verfolgte bald einen marxistisch-leninistischen Kurs und richtete sich in seiner Kampfstrategie an den kubanischen Erfahrungen und am Idol Che Guevara aus. Zunächst verliefen seine Mitte der Sechzigerjahre begonnenen Guerillaaktivitäten wenig erfolgreich, und mit der Tötung von Carlos Fonseca, dem theoretischen Kopf des FSLN, im November 1976 schien die Bewegung am Ende zu sein. In dieser Situation riefen die Sandinisten zu einem Bündnis aller Anti-Somoza-Kräfte auf. Ermuntert durch die neue, menschenrechtsorientierte Politik der USA unter ihrem Präsidenten Jimmy Carter wandten sich damals bürgerliche Kräfte um den Verleger Pedro Joaquín Chamorro und die katholische Kirche von dem Regime des Diktators Anastasio »Tachito« Somoza Debayle ab und begannen mit dem FSLN zu kooperieren. So geriet der Somoza-Clan immer stärker unter Druck. Die Ermordung Chamorros 1978 sollte die politischen Kräfteverhältnisse in Nicaragua dann vollends umkehren: Die USA kündigten ihre Unterstützung für Somoza auf. Als dieser im Juli 1979 außer Landes floh, hatte das breite Oppositionsbündnis gesiegt. Tatsächlich aber übernahm der FSLN mit Daniel Ortega an seiner Spitze die Macht.
 
Seit Beginn der Achtzigerjahre kam es in Nicaragua zu umfassenden Reformen im Bildungs-, Gesundheits- und Agrarwesen, durch den Aufbau sandinistischer Massenorganisationen auch zu weit reichenden Veränderungen des politischen Lebens. Nun begannen die USA, fest entschlossen, kein »zweites Kuba« zu dulden, den Widerstand gegen die Sandinisten zu organisieren und zu finanzieren. So formierte sich unter Führung ehemaliger Angehöriger der Nationalgarde Somozas die antisandinistische Guerillabewegung der »Contras«, die in den folgenden Jahren für eine Neuauflage des Bürgerkriegs sorgte. Die Herrschaft der Sandinisten endete allerdings auf friedlichem Wege. 1990 wurden in Nicaragua auf internationalen Druck hin freie Wahlen abgehalten, aus denen Violeta Barrios de Chamorro, die Witwe des ermordeten bürgerlichen Oppositionsführers, als Siegerin hervorging.
 
Vom »Leuchtenden Pfad« bis zu den Zapatisten
 
Lange Zeit räumten Beobachter der peruanischen Befreiungsbewegung Sendero Luminoso (»Leuchtender Pfad«) Erfolgschancen für eine Machtübernahme ein. Die Bewegung wurde 1970 von dem Philosophieprofessor Abimael Guzmán und anderen Intellektuellen in Lima gegründet und orientierte sich eng an leninistischen und maoistischen Vorbildern. Seit 1980 verstärkte der Sendero Luminoso seine Guerillaaktivitäten auf dem Land. Dabei versuchte er, die ethnischen Gegensätze, geprägt auch vom eklatanten sozialen Gefälle zwischen Stadt und Land, für sich auszunutzen. Zeitweise kontrollierten die Guerillaverbände weite Teile Perus und konnten sich als Ordnungsmacht etablieren. Doch Zwangsrekrutierungen, wahllose Ermordungen unter den Dorfbewohnern und terroristische Bombenanschläge, ab 1988 auch die Ausdehnung der Gewaltakte auf die urbanen Zentren lehrten die Bevölkerung das Fürchten. Nach der Festnahme Guzmáns 1992 büßte die Bewegung ihre strategische Handlungsfähigkeit weitgehend ein.
 
Lange im Schatten des Sendero Luminoso stand die guevaristische Revolutionäre Bewegung Tupac Amaru (MRTA), benannt nach dem peruanischen Revolutionär Tupac Amaru, dem Anführer eines antispanischen Aufstands in den Jahren 1780 bis 1782. In das Bewusstsein der Weltöffentlichkeit gelangte diese Guerillabewegung, als sie am 17. Dezember 1996 zahlreiche Gäste eines Empfangs in der Residenz des japanischen Botschafters in Lima als Geiseln nahm und die Forderung nach Freilassung von über 400 inhaftierten Gesinnungsgenossen erhob. Nach zahlreichen gescheiterten Vermittlungsversuchen stürmten peruanische Sicherheitskräfte vier Monate später die besetzte Botschaft, befreiten 71 der 72 Geiseln und töteten alle 14 Geiselnehmer.
 
Mitte der Neunzigerjahre wurde auch Mexiko von sozialrevolutionären Unruhen aufgeschreckt, die durch die Zapatistische Nationale Befreiungsarmee (EZLN) gesteuert wurden. Es handelte sich dabei um bewaffnete Indioaufstände im südlichen Gliedstaat Chiapas, die die Regierung blutig niederschlagen ließ. Logistik und Organisation der Bewegung konnte die Armee freilich nicht entscheidend treffen. Ihr Wortführer, der stets vermummt und bewaffnet auftretende »Subcomandante Marcos«, ein ehemaliger Universitätsdozent nicht indianischer Herkunft, verlangte Sozialreformen und ein Ende der Diskriminierung der Indios. Im Unterschied zu den klassischen Guerillabewegungen wollten die Zapatisten, die sich mit ihrem Namen auf den 1919 ermordeten mexikanischen Bauernführer Emiliano Zapata beriefen, nicht die staatliche Macht erobern, sondern zielten auf Friedensverhandlungen, die jedoch zu keinen nennenswerten Erfolgen führten.
 
 
Eine generelle Bestandsaufnahme zeigt, dass revolutionären Bewegungen seit dem Zweiten Weltkrieg nur wechselhaftes Glück beschieden war. Neben den geschilderten Triumphen in China, Vietnam und Kuba sind viele Mühen ohne Erfolg geblieben oder bleiben noch ohne Erfolg, wie etwa die Bewegung des FRETILIN, der gegen die international nicht anerkannte Annexion Ost-Timors durch Indonesien kämpft. Welche Bedingungen haben den jeweiligen Triumph der Freiheitskämpfer und Guerilleros begünstigt oder verhindert?
 
In Asien scheinen zuallererst externe, das heißt außerhalb der betroffenen Länder selbst liegende Faktoren eine gewichtige Rolle gespielt zu haben, etwa die Lieferung von Waffen, die Bereitstellung nachrichtendienstlicher Erkenntnisse, die Gewährung von Rückzugs- und Ruheräumen und nicht zuletzt die moralische und diplomatische Unterstützung durch die UdSSR und andere sozialistische Länder. Im globalen Kontext betrachtet, scheinen auch zwischenstaatliche Kriege, meist in Verbindung mit dem Prozess der Entkolonialisierung, bedeutsam gewesen zu sein. Das gilt zum Beispiel für China in Asien ebenso wie für Algerien in Afrika. Im Falle Kubas und Nicaraguas dürften hingegen interne Faktoren das Geschehen stärker beeinflusst haben, auch wenn die Entscheidung der USA, die Unterstützung der jeweiligen vorrevolutionären Regime aufzukündigen, nicht ohne Bedeutung geblieben ist. Nachhaltig begünstigt hat den Kampf der Guerilleros der spezifische Charakter der alten Regime, ihre Reformunfähigkeit, Willkürherrschaft und Korruption ebenso wie Wahlfälschungen und mangelnde wirtschaftliche Erfolge. Neben dem Verzicht auf Terrorakte, unter denen vor allem die breite Bevölkerung gelitten hätte, war die Bildung einer »antidiktatorischen Allianz« eine wesentliche Erfolgsgarantie für den Machterwerb revolutionärer Bewegungen.
 
Besondere Beachtung verdient daher die Frage nach der Bilanz revolutionärer Bewegungen nach ihrer Machtübernahme, legitimierten sich diese doch nicht zuletzt durch ein Bündel sozialer Verheißungen. Stets hat man dabei mit neuen Gesellschafts- und Wirtschaftsmodellen experimentiert, was übrigens die entwicklungspolitische Theoriediskussion enorm bereichert hat. Die dauerhaft anhaltenden Erfolge sind jedoch fast durchweg ausgeblieben. Die der revolutionären Politik immanente Dritte-Welt-Orientierung (tercermundismo) solcher Staaten sollte beispielgebend eine Verbindung von Sozialismus und Demokratie manifestieren, was aber nirgends gelang. Im Gegenteil, die Verletzung der Menschenrechte steigerte sich unter den revolutionären Machthabern teilweise noch und zeitigte bisweilen erschreckende Bilanzen. In China beispielsweise forderte der ideologische Eifer in den Jahren der Kulturrevolution schätzungsweise drei Millionen Opfer. Und aufgrund der Zwangsvereinigung Vietnams 1975 riskierten zahllose Menschen, die Boat People, unter Lebensgefahr die Flucht über das Südchinesische Meer, um so den Umerziehungs- und Arbeitslagern der neuen Machthaber zu entkommen.
 
Das sozialistische Kuba musste nach dem Zusammenbruch der UdSSR und dem damit verbundenen Ende der sowjetischen Transferleistungen einen dramatischen Einbruch in den Standards sozialer Wohlfahrt hinnehmen. Das »ewige« Embargo durch Amerika verschärfte diese Situation noch zusätzlich, wobei diese Politik des nördlichen Nachbarn gleichzeitig als Begründung für die katastrophale Wirtschaftslage herhalten musste und so indirekt wiederum zur Herrschaftsstabilisierung des reformunwilligen Regimes beitrug.
 
Aber in China und Vietnam erkannten die Führer die ökonomischen Zeichen der Zeit noch rechtzeitig und führten marktwirtschaftliche Reformen ein, indes ohne dabei ihren absoluten Herrschaftsanspruch infrage zu stellen und auch nur minimale Zugeständnisse in der Frage der persönlichen Freiheitsrechte zu machen. 1989 ertränkten die Kommunisten auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking die chinesische Demokratiebewegung im Blut ihrer unschuldigen Opfer. Einzig die Sandinisten in Nicaragua stellten die politische Macht auf demokratischem Wege zur Disposition.
 
Prof. Dr. Dieter Nohlen und Matthias Basedau
 
 
Befreiungsbewegungen in Afrika. Politische Programme, Grundsätze und Ziele von 1945 bis zur Gegenwart, herausgegeben von Rainer Falk und Peter Wahl. Köln 1980.
 Debray, Régis: Revolution in der Revolution? Bewaffneter Kampf und politischer Kampf in Lateinamerika. Aus dem Französischen. München 1967.
 
Die Guerilla zieht Bilanz. Lateinamerikanische Guerilla-Führer sprechen über Fehler, Strategien und Konzeptionen - Gespräche, aufgezeichnet in Argentinien, Bolivien, Chile und Uruguay, herausgegeben von Gaby Weber. Gießen 1989.
 Guevara, Ernesto Che: Ausgewählte Werke in Einzelausgaben, herausgegeben von Horst-Eckart Gross. Band 1: Guerillakampf und Befreiungsbewegung. Aus dem Spanischen. Dortmund 1986.
 Ho Tschi Minh: Revolution und nationaler Befreiungskampf. Ausgewählte Reden und Schriften 1920-1968, herausgegeben von Bernard B. Fall. Übersetzt von Arne Eggebrecht und Eva Eggebrecht. München 1968.
 Laqueur, Walter: Guerrilla. A historical and critical study. Neudruck Boulder, Colo., u. a. 1984.
 Mao Tse-tung: Theorie des Guerillakrieges oder Strategie der Dritten Welt. Beitrag von Sebastian Haffner. Aus dem Englischen. Reinbek 1966.
 
Der Partisan. Theorie, Strategie, Gestalt, herausgegeben von Herfried Münkler. Opladen 1990.

Universal-Lexikon. 2012.

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